Tiere in der Mythologie und als methodisches Konzept von Klangarbeit

Es gibt Tiere, die haben eine archaische Verbindung zum Menschen, welche älter ist und tiefer geht, als die Verbindung zu unseren Haus- und Nutztieren.

Meist sind diese auch mit den verbreitetsten Phobien verbunden. Ohne wissenschaftliche Statistiken zu kennen, fallen einem in der Regel sofort Spinnen, Schlangen, krabbelnde Kleinsttiere und schleimige Kriechtiere ein. Alles Tiere, denen man keine emotionalen Verhaltensweisen nachsagt, die auf einer (zumind. hauptsächlich) vegetativen Nervenebene agieren. Unser vegetatives Nervensystem ist zuständig für Strategien, die auf Reflexen basieren. Ein reflektorisches Abstimmen und Reagieren auf Umweltreize. Auf dieser Ebene werden die lebensnotwendigen Vorgänge in unserem Körper reguliert, wie Atmung, Herzkreislaufsystem, Schwitzen, Fallen (im besten Falle noch wie bei Kleinkindern), Niesen, Husten, Räuspern, Gähnen, Greif- und Loslassreflex, die Liste ist noch lang weiterführbar.

Warum haben wir m Zusammenhang mit der vegetativenen Ebene so viele Ängste entwickelt?

Weil sich die vegetative Ebene so gut unserem Bewusstsein entzieht?

Das wollen wir hoffen, denn auf dieser Ebene stört das Bewusstsein eine gesunde und funktionale Regulation. Aber ein Ja ist wahrscheinlich, denn vielen Menschen macht Angst, was wir weder bewusst wahrnehmen noch verstehen können. Unser Bewusstsein leidet in unserer westlich geprägten Kultur unter einer aufgeblähten Überbewertung seiner Rolle und seiner Wichtigkeit. Dazu mehr im Artikel "Orpheus und die Entstehung des Bewusstseins". Ein eindrückliches Beispiel für das unpassende Eingreifen des Busstseins ist das des Fallens. Kleinkinder fallen noch so, dass sie sich möglichst wenig verletzen. Nach dem Motto, lieber ein paar Hautabschürfungen, die schnell verheilen, als einen komplizierten Handknochenbruch. Die Wahrscheinlichkeit zu solchen Brüchen steigt mit dem Alter und dem Verlust von reflektorischer Reaktion zu gunsten von "sich schützen wollen" oder "die gute Kleidung schützen wollen" oder auch "das Fallen eigentlich gar nicht zulassen wollen".

Auch das Musizieren und Singen gehört auf eine reflektorische Ebene. Ein vielzitiertes Beispiel: Macht sich ein Pianist über eine schwierige Passage im Moment des Spielens darüber Gedanken, was seine Finger da eigentlich tun, fliegt er raus, versagt die motorische Kontrolle. Das Bewusstsein ist nicht dafür ausgerichtet, komplexe Bewegungsabläufe zu koordinieren.

Weil wir einen "natürlichen" Zugang zu der vegetativen Ebene in uns verloren haben und uns dort nur noch notgedrungen selten begegnen?

Höchst wahrscheinlich ja! Wir sollten uns gestatten mehr mit dem Gefühl des Kontrollverlustes Freundschaft zu schließen, dem vielzitierten "Loslassen". Dem Bewusstsein kommt es wie ein Verlust vor, in Wirklichkeit findet nur eine Verlagerung der Kontrolle statt, hin zu den Ebenen, die dafür eigentlich auch gedacht sind, den Bereichen der motorischen Kontrolle im Stammhirn (s. Formatio reticularis). Im Grunde passiert also eher das Gegenteil, eine bessere Bewegungskontrolle. Jedoch wird der Schritt dorthin wahrscheinlich um so schwerer, je mehr wir unseren eigenen Wert über die Rolle des Bewusstseins definieren.

Wie aber kommunizieren wir mit den vegetativen motorischen Nervenzentren?

Beide, Vegetativum und Bewusstsein, sprechen nicht die selbe Sprache. Mehr noch, Sprache in Form von Worten ist dem Vegetativum erst einmal wesensfremd. Bilder jedoch haben von je her eine Imaginations- und Einflusskraft auf das Vegetativum. Deshalb bedienen sich Mythen und Märchen derer gerne. In diesen Fällen verliert man dessen Wert, versucht man sie mit dem Verstand zu verstehen. Sie verschleiern ihr Gesicht, versucht man sie realitätsnah oder analytisch zu verstehen. Wählt man Bilder, die mit einem Zustand des Vegetativum zu tun haben und lässt man das Bild auf sich wirken, ohne darüber nachzudenken, ohne das Bild zu bewerten, zu kommentieren oder sonst sprachlich oder bewusst zu initiieren, kann man erstaunt sein, was das Bild in einem bewirkt und Auswirkungen auf motorische Prozesse haben kann.

Im Folgenden möchte ich exemplarisch auf die Kraft von einem Tierbild eingehen und dazu ermuntern selber ispirierend mit Bildern zu experimentieren.

Die Spinne und das Spinnennetz

Interessanter Weise ist die irrationale Angst vor Spinnen in den Regionen der Welt am größten und verbreitesten, wo kaum humanpatogene (den Menschen krank machende) Spinnen vorkommen, den westlichen Industrieländern (von Australien abgesehen). Dort wo die Spinnen auch den Menschen gefährlich werden können, werden sie aber als Nützlinge (gegen Insekten) oder als Delikatessen angesehen. Mehr noch: "In Westafrika wird die Spinne Anansi als hohe Gottheit verehrt. Anansi gilt hier als Urheber des Wissens und der Klugheit, Erfinder des Ackerbaus, Regen- und Wettergott." 1

Die hauptsächliche Sinnesverbindung der Spinne mit der Welt ist eine akkustische. Sie haben zwar keine Ohren, aber zwei Arten von Härchen, hauptsächlich an den Beinen und den zwei Kopffühlern. Die eine Art reagiert auf Schwingungen in der Luft, die andere auf Vibrationen über den festen Untergrund auf denen sie stehen oder laufen und bei Netzspinnen auch über ihr Netz. "Spinnen verwenden Vibrationen als Signale in der Partnerwahl, um zwischen Eltern und Nachwuchs zu kommunizieren, um mit Gruppenmitgliedern zu kommunizieren und in der Feindabwehr." 1 Spinnen machen sich also im wesentlichen ein Bild von der Welt über Vibrationen. Sie erkennen anhand ihrer, ob es der Wind ist, ein Blatt oder Stock oder ein Beutetier, der bzw. welches das Netz in Schwingung versetzt. Wahrscheinlich können sie sogar die Art des Beutetiers an der Art des Schwingungsmusters erkennen, die diese im Netz hinterlassen. Das Netz ist das verlängerte Sinnesorgan der Spinne. Sie bringt durch ihre Beinbewegungen das Netz zum vibrieren und kommuniziert so über das jeweils erzeugte Schwingungsmuster mit ihren Kommunikationspartnern. Höchstwahrscheinlich läuft sie mit ihren acht Beinen in einer Art über das Netz, wie sie die Vibrationen ungehemmt aufnehmen kann, ohne sie zu dämpfen. Ihre Beine vibrieren dabei gehörig mit.

Das Bild der Finger, die sich auf den vibrierenden Saiten des Instruments bewegen, wie laufende Spinnenbeinen auf dem Spinnennetz, kam mir beim Üben mit der Gitarre. Und immer wieder kann ich umgekehrt dieses Bild benutzen, um auf eine ganz vegetativ, reflektorische Ebene des Instrumentenspielens zu kommen. Wenn die Vibrationen der Saiten in den Fingerkuppen und weiter im ganzen Finger nicht nur spürbar sind, sondern sich in der Wahrnehmung tatsächlich in etwas lebendiges verwandeln, dann verschmelzen die Bewegungen der Finger und die Vibrationen zu einem Ganzen. Dann vereinen sich beide zu einem Wesenhaften. Saiten und Finger sind Bestandteil eines "Organs", eines "Wesens", sind Teil ein und desselben Vorgangs. Die Empfindung unterscheidet plötzlich nicht mehr zwischen passiver, toter, schwingender Saite und meinen lebenden Fingern, die tatkräftig die Saiten in Schwingung bringen. Die Finger sind in der Empfindung nicht mehr "tätig" sondern werden eher bewegt und die Saiten haben ein Eigenleben bekommen und beide befruchten sich gegenseitig. Besser noch, beide, Saiten und Finger, gehören nun weder zu mir noch zum Instrument, sondern führen ein ganz magisches "Selbst", eine lebendige eigene Wesenheit. Das sind beglückende und inspirierende Momente, in denen die Musik aus sich heraus entsteht. Die Musik selbst wird nun zu einer eigenen Wesenheit. Sie wird tatsächlich lebendig, nicht im Sinne von vital, sondern von "eigen lebend".

In diesen Momenten hat man einen recht hohen Grad an optimaler Bewegungsanpassung der Finger an die Schwingung der Saite erreicht, eine echte sensorische Rückkopplung, eine Annäherung an einen fast perfekten Regelkreis zwischen Motorik und den Schwingungseigenschaften des Instruments mit Hilfe der Sensorik. Diesen Prozess könnten wir niemals in dieser Feinregulation mit Hilfe des Bewusstseins erlangen. Das Bewusstsein darf dabei nicht mehr als ein absolut stiller Beobacher bleiben und muss die vegetative Ebene zum vollen Zuge kommen lassen, die eine andere und ganz eigene Wirklichkeit der Empfindung mit sich bringt. In diesem Zustand kann sich echte Kreativität entfalten, nicht als geplante, bewusst entschiedene Strategie der Musikgestaltung, sondern in einem ursprünglichen Sinne, wie "von der Muse geküsst", als "göttliche Eingebung", oder als Geschenk der Götter, wie es die Literatur beschreibt.

Dieses Bild lässt sich vielseitig erweitern. Die klebrigen Eigenschaften des Spinnennetzes z. B. helfen auch auf eine Empfindungsebene zu kommen, die weit vom Fühlen entfernt ist. Sie vermitteln eine Art Adhäsionkraft, die es erlaubt die Finger während des Spielens von der vibrierenden Saite wegzubewegen ohne den Kontakt zu ihnen zu verlieren. Es kann u. U. eine Empfindung entstehen, als würde ein magisches Luftpolster zwischen Fingerkuppe und Saite existieren, auf dem die Bewegungen der Finger abgepolstert werden und die Finger reibungslos über die Saiten gleiten lässt. Wie ein Wassertropfen auf einer heißen Herdplatte auf einem Luftpolster läuft. Der silbrige Netzfaden, vielleicht sogar vom Tau benetzt, korreliert mit einer silbrigen Klangempfindung, einer hellen, fadenartigen Spur im Klang, der Brillanz, die wiederrum organisierende Fähigkeiten hat (s. Die Brilanz als Voraussetzung von Selbstregulation).


Nachwort:

Wie tief Bilder in uns verankert sein können möchte ich an einem Erlebnis in meiner Ausbildung am Lichtenberger® Institut erläutern. Wir haben in unserer Gruppe alle ein Foto von einer Muskelgruppe bekommen, die etwas mit Singvorgängen zu tun hatte, welches wir aber nie zuvor gesehen hatten. Unser Verstand konnte nicht einordnen oder vermuten, womit der abgebildete Muskelbereich auch nur annähernd zu tun haben könnte. Die Anweisung war nun, das Bild auf uns wirken zu lassen, ohne darüber nachzudenken. Um welche Muskelgruppe es sich handelte, wurde erst am Ende aufgedeckt. Das überraschende war, dass wenn das Bild eine Wirkung entfalltete (was bei den meisten der Fall war) es zielsicher mit dem Bereich des abgebildeten Muskels zu tun hatte. Unser Körper erkennt sich intuitiv, als hätte er eine Landkarte von sich, die er auf dem Foto wiedererkennt. Das ist absolut erstaunlich, bedeutet es doch in der Konsequenz, dass wir längst ein Wissen über uns und unsere Funktionen haben, ohne dies wissenschaftlich dem Bewusstsein erschlossen zu haben. Wie weit dieses innere Urwissen geht, bleibt natürlich unklar. Wir sollten aber darauf vertrauen, dass wir eher (deutlich) mehr wissen als wir denken. Auch sollten wir bei dem Urteil, was unsere Urvorfahren wissen konnten, vorsichtig sein. Das Bild vom finsteren Mittelalter ist wissenschaftlich schon längst widerlegt. Aber auch wenn wir wissenschaftliche Artikel darüber lesen, dass in der Steinzeit offensichtlich Operationen am Gehirn stattgefunden haben um bestimmte Krankheiten zu behandeln, werden wir daran erinnert, das man vielleicht deutlich mehr "Wissen" für möglich halten darf, ohne dazu unbedingt wissenschaftliche Erkenntnisse zu benötigen.