Gegensätze - Dualismus

Unser Gehirn braucht Gegensätze.

Strukturen erkenne wir nur, wenn hell-dunkel, schwarz-weiß, laut-leise usw. vorhanden ist. Eine Kugel sehen wir nicht mehr als Kugel, sondern als Kreis, wenn die Kugel optimal ausgeleuchtet ist. Unser Gehirn braucht Schatten um die Dreidimensionalität einer Kugel zu erkennen. Und am besten auch noch Bewegung in den Lichtquellen. Ein zu gut ausgeleuchteter Arbeitsplatz ist anstrengend für unser Auge und unser Gehirn. Kerzenlicht bietet viel Schatten und bietet außer einer Entspannung für die Augen eine vermehrte Assoziationsfähigkeit, somit vermehrte Inspiration und Kreativität!

Eintönigkeit oder Gleichheit ist der Tot jeder Wahrnehmung. Abwechslung und Vielfältigkeit bedeutet Leben und Lebendigkeit.

Wenn wir zwei Kilometer auf einer gleichförmigen Straße an einer gleichförmigen Mauer entlang laufen, ermüden wir, die Gedanken werden träge unsere Stimmung sinkt. Laufen wir die gleiche Strecke durch den Wald, fühlen wir uns erholt, haben Energie getankt, unsere Gedanken laufen auf Hochtouren, wir sind inspiriert und entwickeln Tatendrang. Diese Tatsache ist mehreren Umständen geschuldet, aber ein wichtiger Aspekt ist die Abwechslung. Das Auge bekommt eine Vielfalt an Abstufungen von verschiedensten Farben und Helligkeitswerten, von schier unendlichen Strukturen geboten und das alles auch noch in ständiger Bewegung und nicht statisch. Laufen wir quer durch den Wald, ab von den Wegen, genügen schon sehr kurze Strecken um uns wach zu machen.

Bewegung bedeutet Leben. Stillstand ist der Tod.

Unser Auge hat ein nicht sehbares Filmmern, das steht nie still. Der Grund ist, damit nie die gleichen Reize permanent auf die gleichen Sinnesrezptoren im Auge treffen. Dann nämlich "erschöpfen" diese und können keine optischen Reize mehr weiterleiten. Lähmt man diese Muskeln für die Flimmerbewegungen und fixiert den Kopf, so verschwinden nach und nach alle optischen Eindrücke die statisch sind. Wir sehen dort nur noch weiß. Alles was sich bewegt können wir aber noch normal sehen. Hühner haben kein Augenflimmern, die müssen deshalb ständig ihren Kopf vor und zurück bewegen um klar sehen zu können und nicht die Sehfähigkeit für statische Dinge zu verlieren. Nur durch Bewegung können wir sehen! Bewegung verspricht auch bessere Anpassungsmöglichkeiten an die Umwelt. Selbst unsere Knochen sind nicht statisch oder totes Material. Der Knochen baut sich in jedem Moment ständig gleichzeitig auf und ab. Dadurch kann er an Stellen die stärker belastet sind stärker werden und an Stellen wo er weniger belastet wird poröser werden, damit wir Gewicht sparen. Das ist ein kontinuierlicher Anpassungsprozess.

Ein gutes Vibrato ist Ausdruck eines optimalen Regulationszustandes der Stimme.

In der Natur kreist alles immer um einen optimalen Wert. Nie wird der optimale Wert einfach nur statisch gehalten. Beim Singen und Sprechen gibt es eine optimale Balance zwischen dem Luftdruck von unten auf die Stimmlippen (subglottischer Druck) der die Stimmlippen zum Schwingen bringen will und dem Druck zwischen den Stimmlippen bei deren Schließung, damit die Stimmlippen überhaupt schwingen können. Wir nennen das mediale Kompression. Balance bedeutet leichtes kreisen um den optimalen Zustand. Eine Balance ist in der Natur nie statisch. Denn diese lässt sich im leichten Kreisen viel leichter im optimalen Bereich halten und vor allem verlässlicher in Bezug auf äußere Störfaktoren aufrecht erhalten. Dieses leichte Kreisen äußert sich beim Singen als Vibrato. Ein Vibrato stellt sich irgendwann im Entwicklungsprozess einer Stimme immer von alleine ein, es ist nicht verhinderbar (außer man unterdrückt es bewusst) und stellt ein "Qualitätszeichen" der Stimme dar. Es sagt mir, dass die Balance, die Abstimmung zwischen Luftdruck und Stimmbandschluss sich in optimalem Zustand befindet. Oder aber sich diesem nähert, denn es gibt auch "ungünstige" Vibratos, die davon zeugen, dass die Druckverhältnisse noch verschoben sind, sich noch nicht ganz in oprimaler Balance befinden. Dieses leichte Kreisen um einen optimalen Zustand scheint ein Erfolgsprozess in der Natur zu sein. Wir finden es immer, wenn es sich um komplexe Zustände handelt, die vielen äußeren Einfüssen unterliegen.

Schattierungen im Klang stellen die komplexeste und weitreichendste Kommunikation dar, die wir auf körperlicher Ebene aufweisen können.

Unser Kehlkopf erzeugt mit den Stimmbändern ein idealerweise starkes und breites hochfrequentes Rauschen. Das ist alles andere als ein "schöner" Ton. Aber es stellt uns eine große Bandbreite an Frequenzen zur Verfügung und eine hohe Energie. Die inneren Räume des Vokaltraktes (Nase, Mundraum, Rachen, der Raum zwischen Kehlkopf und Kehldeckel, der Subglottische Raum), unser Gewebe, die Knochen und Faszien, all das filtert variabel Frequenzen heraus, schwächt bestimmte Freuquenzen oder verstärkt andere. Sie bringen eine Struktur in den Klang. Mit dieser Modulation des Klanges findet der immense Informationsaustausch auf kommunikativ-kognitiver Ebene statt, wie auf emotionaler Ebene und auch auf vegetativer. Struktur im Klang bedeutet die Manifestation von Informationen, bedeutet umfängliche Kommunikation. Die ersten beiden Ebenen der Kommunikation müssen kaum erläutert werden, Sprache als Kommunikationsmittel auf verbaler, verstandesmäßiger und assoziativer Ebene und emotionale Kommunikation als verbaler Ausdruck, aber vor allem auch als Emotionen in der Stimme (besser: im Klang), das Ausdruck im Volksspruch findet "Der Ton macht die Musik". Die dritte Ebene ist wohl weniger bekannt oder besser bewusst. Ich erhalte über den Klang Aussagen über den Zustand des Körpers, über den Zustand des Gewebes, über den Zustand der Muskulatur, über die Proportionen im Körper, wie sich alles aufeinander abstimmt, über die Zustände im Körper, die Homöostase. Hier handelt es sich um Mikroprozesse und die Qualität von Zuständen. Deshalb empfindet z. B. ein Zuhörer auf Grund der Empathiefähigkeit (Spiegelneuronen), was beim Sänger vor sich geht. Er kann den gleichen ermüdenden Druck an den gleichen Stellen des Körpers wahrnehmen, die beim Sänger selbst den Klang prägen und formen, ebenso natürlich auch die gleiche befreiende Wirkung wenn an diesen Orten eine optimale Effizienz zwischen den beteiligten Antagonisten herrscht.

Dualismus

Im Begriff Dualismus steckt das lateinische Wort dualis = „zwei enthaltend“. Zwei Entitäten, Prinzipien, Mächte, Erscheinungen, Seh- und Erkenntnisweisen. Beide Seiten stehen in einem Spannungsverhältnis oder sogar Gegensatz zueinander, können (scheinbar) unvereinbar sein, sich aber auch als Polarität ergänzen. Unser Körper ist stark dualistisch geprägt. Wir haben zwei Augen, die unterschiedlich sehen, zwei Ohren, die unterschiedlich hören (verschiedene Hörqualitäten abdecken), wir haben die linke und rechte Gehrinhemisphäre, die völlig unterschiedlich, scheinbar unvereinbar die Welt abbilden und verstehen. Unsere linke und rechte Gesichtshälfte scheint nur scheinbar symmetrisch. sie drücken völlig unterschiedliche, ja sogar gegensätzliche emotionale Zustände aus. Unser rechtes Bein geht anders als das linke, was man akkustisch hören kann. Unser linker Arm arbeitet anders als der rechte (Links- und Rechtshändigkeit). Am vielleicht prägendsten für unser komplettes Leben sind aber zwei sich dualistisch verhaltende Reflexe, die einzeln betrachtet unvereinbar sind. Der angeborene Greifreflex und der erworbene Loslassreflex. Der

Greifreflex

sichert unser Überleben und ist unser stärkster Schutzmechanismus, den wir haben. Er sichert dem Baby sich im Fell der Mutter festzukrallen, absolut überlebenswichtig auf der Flucht vor Gefahr. Der schutzgebende Reflex Greifen bedeutet aber auch immer Trennung und Isolation. Unser stärkster "Zupacker" ist noch weit vor den Händen der Kiefer. Er zerkleinert die Nahrung, trennt Einheiten in kleine Teile, isoliert sie. Die Verdauung führt dies fort. Auch im Gaumen, in der Zunge, im Bauchraum, selbst in der Wirbelsäule (Kopf einziehen), sowie den Augen und den Ohren wirkt der Greifreflex, das Zupacken. Die Augen können zupacken oder loslassen (Druck und Öffnung), eine weitreichend unterschiedliche Empfindung. Das Sehen kann fokusieren und damit Details vom Gesamten trennen und isolieren, ebenso wie das Hören. Sehr vieles setzt auf dem Greifreflex auf, viele weitere Reflexe bis hin zu Verhaltens- und Sichtweisen. Was macht das mit einer Gesellschaft, in der die Prinzipien des Greifreflexes übermächtig sind: Schutzbedürfnis, Handeln, Zupacken, Erfolg und Leistung, Zeit. Das trennt mich von Anderen, bringt Schutz mit sich, aber auch Isolation und Alleinsein, birngt mich in eine Kommunikationsarmut. Demgegenüber steht der

Loslassreflex.

Abgesehen davon, dass er auch zum Überleben beitragen kann - bei der Jagd fliegt sonst weder der Speer noch der Pfeil - steht er aber für Geschehenlassen, Aufnehmen, Wahrnehmen, sich in einem Zustand befinden (im Gegensatz zum Handeln), im Moment sein, zeitlos. Das Kleinkind, was mit dem Fallenlassen des Löffels genau diesen Loslassreflex einübt, nimmt neugierig die Wirkung war. Es gibt die Kontrolle über den Löffel ab und erfährt gleichzeitig die Folgewirkung,in dem Fall der Schwerkraft, wenn der Löffel auf den Boden fällt. Es gibt sich den Ereignissen hin. Es lässt geschehen ohne Einfluss auf den weiteren Verlauf zu nehmen. Gerade zu erforschen was passiert, wenn ich ein Ereignis aus meinem Machtbereich anderen Mächten oder anderen Instanzen überlasse (beim Löffel der Schwerkraft), macht lebendig bringt mich in Austausch mit der Umwelt. Loslassen bedeutet in Kontakt gehen. Greifen, Zupacken, Handeln bedeutet aus dem Kontakt, in die Trennung gehen. Loslassen öffnet meine Wahrnehmung und damit den Informationsaustausch mit der Umwelt. Es führt Einzelteile zusammen zu einem Gefüge, zu einem Zusammenhang, einem Ganzen mit einer Binnenverflechtung. Alles steht im Zusammenhang, hat eine Verbindung zu Allem und ergibt einen "Sinn". Loslassen ist verbindend und stiftet Sinn. Zeit verliert ihre Bedeutung, wir sind im Moment, nicht im Handeln, nicht im Machen und ohne Macht, wir lassen geschehen. Das bedeutet aber auch gleichzeitig ohne Schutz. Loslassen um zu lernen was passiert macht neugierig und ispiriert. Kunst und Kultur, Lernen wie persönliche Entwicklung beruht letzendlich nur auf dem Loslassreflex. Wie absurd, dass unsere Gesellschaft politisch und sozial geprägt ist vom Machen und von Macht, das Lernen in der Schule auf Leistungsdruck basiert. Unser komplettes Leben, privat, alltäglich, sozial, gesellschaftlich/polistisch setzt auf den Greifreflex. Er ist unser tiefster Reflex, auf den am einfachsten zurückgegriffen werden kann. Bewusst wird das Dilemma oft erst, wenn größere Probleme auftauchen, die bedrohlich werden. Dann erfahren wir vielleicht in einer Psychotherapie oder Selbsterfahrungsgruppe, dass Loslassen wichtig ist und Heilung bringen kann. Wie soll das gehen in einer Gesellschaft, die fast überwiegend auf den Greifreflex setzt? Wir sind gefordet beide Reflexe wieder in ein Gleichgewicht zu bringen. Uns eine Alternative des Handelns zu ermöglichen, auf Gesamtgesellschaftlicher, kultureller und persönlicher Ebene.

Denn letztendlich brauchen wir beide Reflexe. Selbst beim Kampf, bei der Jagt sind wir ohne Loslassreflex erfolglos. Beim Bogenschießen ist gerade der Moment des Loslassens entscheidend, nicht so sehr das Spannen und Zielen. In der Qualität des Loslassen der Finger entscheidet sich, wie der Pfeil fliegt. Alles wesentliche entscheidet sich im Moment, In dem kurzen Wechsel vom Spannen zum Fliegen. Ist der Pfeil losgelassen, haben wir keinen Einfluss mehr auf den Weg den er geht. Ein schönes Beispiel ist das des Sportschießens. Ein Gewehr wird auf die Qualität getestet, in dem es fest eingespannt wird und auf eine gewisse Distanz mehrere Schüsse auf eine Zeilscheibe abgeben werden. Durch das Nachgeben des Materials und den Spielraum von Passungenauigkeiten treffen die Kugeln nie ganz die gleiche Stelle, es gibt einen kleinen Radius an Einschüssen. Gute Schützen können nun aber einen geringeren Radius der Einschüsse erreichen als Das Gewehr eigentlich hergibt. Das ist eigentlich unglaublich, schier unfassbar, wenn man sich klar macht was da passiert. Diese Schützen stellen sich reflektorisch auf die Ungenauigkeit des Materials und Verarbeitung ein und können diese ausgleichen, kompensieren. Sie sorgen dafür, dass das Gewehr besser schießt als das Material und die Verarbeitung eigentlich hergibt. Woher wissen die das? Niemand "weiß" das, weil es keine kognitive Verstandesleistung ist. Dashalb lässt sich diese Kunst nur schwer in Worte fassen. Das ganze passiert reflektorisch, auf Grundlage des Loslassreflexes. In diesem Ereignis, in dem die Kugel losgelassen wird und ihren Lauf antritt, herrscht eine intensive und hochkomplexe Kommunikation mit der Umwelt und dem Zustand des Gewehres. Zeit spielt in der Wahrnehmung keine Rolle, obwohl man sie in diesem Moment eigentlich gerade gar nicht hat. Der Schütze bfindet sich in einem Zustand, nicht im Handeln. Dieser Zustand ist gekennzeichnet durch eine stark erhöhte Sensorik. Die motorische Seite des Handelns (Zielen und Abdrücken) tritt in den Hintergrund und verschwindet aus der Wahrnehmung.

Nichts anderes passiert beim Singen.